Entscheidung

Ich stand also im August vor der Entscheidung, ob ich mich operieren lasse oder nicht. Auch wenn die Medizin hier eindeutige Aussagen macht, so liegt es bei einem selbst, sich auf den OP-Tisch zu legen. Oder eben nicht. Zwingt einen ja keiner. Eine solche Operation ist ein grosser Eingriff. Trotzdem habe ich mich schnell entschieden. Ich hatte die Empfehlung aus der MRT-Untersuchung, ich wusste das ich den Richtwert erreicht hatte.

Es war schlussendlich eigentlich sogar eine einfache Entscheidung, weil ich im Grunde genommen schon vorher auf dem Weg war, diese Entscheidung auch unabhängig von irgendwelchen Messwerten zu treffen. Der Gedanke an die OP war schon vorher da. Seit meinem Termin beim Kardiologen im Frühjahr 2025.

Warum nicht jetzt einen Schlussstrich ziehen? Das Problem angehen. Mein nächster normaler Termin beim Kardiologen wäre im Dezember gewesen. Es sollte mein erster postoperativer Termin bei ihm sein. Ich hätte ihn darauf angesprochen, ob man die OP nicht jetzt angehen könnte. Ich konnte nicht mehr, die Fassade zeigte zunehmend Risse.

Der Brief beschleunigte die Dinge dann nur und nahm mir die Entscheidung ab. Ich habe sogar ein wenig auf den Operationstermin gedrängelt. Weil ich es hinter mir haben wollte. Ich wollte wie gesagt den Jörg von 2018 wiederhaben. Über 6 Jahre Angst waren einfach genug.

Ich wusste zum Zeitpunkt der Entscheidung, dass es einige Zeit dauern wird, bis wieder alles okay sein wird. Das auch dann mein Leben nicht völlig normal sein wird, wie es jeder kennt, das war mir klar. Aber es würde wieder okay sein. Und Okay war alles, was ich wollte. Oder ich hätte die OP nicht überstanden …. und dann hätte es mich auch nicht mehr interessiert.

Survivorship Bias

Wenn man sich über eine solche Situation, über eine solche Operation informiert, ist man mit einem Effekt konfrontiert, der einem im normalen Leben sehr fern erscheint.

Ich habe mich seit 2018 teilweise unregelmäßig in einem Forum beteiligt, in dem Leute über ihre Erfahrungen mit schweren Operationen gesprochen haben (das Forum ist eigentlich nicht genau für meine Erkrankung, aber Leute wie ich werden dort auch willkommen geheißen und sozusagen „toleriert“). Es gibt meines Wissens leider kein ausdrückliches Aneurysma-Forum. Diese Foren bestehen zum Teil aus Leuten, die Angst vor dem haben, was im Rahmen der OP passiert. Sie suchen Beruhigung in diesen Foren. Sie suchen Wissen und Erfahrung in diesen Foren. Und es sind natürlich Leute in diesem Forum, die ihre Operation überstanden haben, und regelmäßig berichten, dass sie die Operation überstanden haben, und dass alles zwar anstrengend und hart ist, aber sie eben noch da sind.

Das zu lesen gibt eine Zuversicht. Wenn die das überstanden haben, dann werde ich das auch! Die Foren sind voll mit positiven Ausgängen dieser Situation. Ein gutes Gefühl macht sich breit. So gefährlich kann das nicht sein.

Bis … ja … bis man einmal darüber nachdenkt und das daraus erwachsende gute Gefühl schlagartig verschwindet. Plötzlich blinkt da in Neonfarben das Wort „Survivorship Bias“. Es mag brutal klingen, aber jene Leute, bei denen es nicht gut ausgegangen ist, bei denen die Operation schief gegangen sind, die in der perioperativen Phase binnen der nächsten 30 Tage große, unüberwindbare Probleme hatten, schreiben keine Artikel in ein Forum. Sie wurden betrauert oder kämpfen mit den Folgen der Operation und haben weitaus besseres zu tun, als einen Artikel in ein Forum zu stellen.

Damit haben Foren ein erhebliches Bias in Richtung Überleben. Notwendigerweise. Ohne diese Erkenntnis ist es einfacher, auf eine solche Operation zuzugehen und sich aus solchen Foren Zuversicht zu holen. Die Frage ist „Wer schreibt nicht mehr?“. Aber macht man sich die Mühe abzugleichen, wer in einem Forum seine oder ihre OP angekündigt hat, dann aber danach nicht mehr schreibt? Sollte man sich seinem Seelenfrieden zuliebe diese Mühe machen? Und wer davon hatte wirklich ein Problem. Für wen haben die Foren nur ihre beruhigende Funktion verloren und haben diese hinter sich gelassen?

Bumms - büst buten

Ich hatte schon vor dem Brief vom Krankenhaus in die Richtung gedacht, dass in der nächsten Zeit die Operation stattfinden würde. Ich dachte da allerdings an irgendwann im Jahr 2026. Aber dennoch war mir klar, dass ich einen ganz wichtigen Fehler von 2019 nicht wiederholen wollte, nicht wiederholen konnte. Ich hatte damals kaum etwas geregelt.

Ich hatte 2019 meine Projekte in der Firma übergeben. Als wäre mein Job das Einzige, das zurückbleiben würde. Aber privat? Ich hatte an meine Familie Briefe geschrieben, die ich verbrannte, als ich nicht operiert wurde. Es war mir wichtig, noch einige Dinge zu sagen.

Aber viele andere Dinge blieben ungeregelt. Ich hatte kein Testament, das diesen Namen verdient. Ja, es gab eine Art Testament. In dem, was dieses Dokument beinhaltete, stand mehr oder weniger: Teilt euch alles von mir. Aber streitet euch nicht.

Vieles aus meinem Leben war undokumentiert. Und wenn es nur um darum ging, wie man der Pelletheizung im Ausfallfalle geeignet in den Hintern tritt.

Den Fehler wollte ich 2025 nicht wiederholen. Mit dem Gedanken an eine OP 2026 hatte ich schon vor August angefangen, mich auf eine OP vorzubereiten, die irgendwann in meiner Zukunft lag. Ich begann früh damit Dinge zu regeln.

Das hat dieses Jahr viele Gedanken, viel Zeit, viele Wochenenden in Anspruch genommen. Es galt, mir Gedanken zu machen, wie es mit meinem Haus weitergeht. Wie es mit dem Tinnef weitergeht, der bei mir so rumsteht. Tassen. Bücher. Elektronik. Wat weiss ich.

Eigentlich war auch das viel zu spät. Nicht, weil am Ende die Zeit knapp wurde. Sie wurde es zwar, aber das ist nicht das Problem. Sondern weil mein Bemühen, alles in Hinblick auf eine bald bevorstehende Operation zu regeln eine von einem besonderen Ereignis getriebene „Ich muss das JETZT regeln“-Wut war. Eigentlich sind das nämlich Dinge, die auch in guten Zeiten geregelt gehören. Und genau das tat ich nicht, weil mir die Notwendigkeit dafür auch nach 2018 noch lange sehr fern erschien.

Vor einigen Tagen lass ich in einem Patienten-Forum von einer Frau, der auch eine große Operation bevorstand „Was soll denn aus meinen Kindern werden, wenn es schief geht?“. Das ist eine gute Frage. Und zwar weit darüber hinaus, was solche Operationen angeht.

Wenn man über gute Doku spricht (sei es nun technische Doku oder Projektdoku), kommt gerne das Beispiel „Und wenn Du jetzt raus gehst, und vor den Bus läufst. Geht es weiter?“). Man lacht meistens, weil es so absurd klingt. Man denkt trotzdem nach, wenn man das Meeting verlassen hat. Geht mir zumindest öfters so. Auch wenn einem genau das Szenario sehr hypothetisch erscheint.

Genau das ist aber mit unterschiedlichen Ausgängen in Lüneburg binnen der letzten Wochen passiert. Ein Mann verstarb nach einem Unfall am Busbahnhof im Krankenhaus, nachdem es erst nach längerer Zeit gelang, ihn unter dem Bus hervorzuholen. Letzte Woche erst wurde eine Radfahrerin schwer verletzt, nachdem sie beim Abbiegen mit einem Bus kollidierte (oder der Bus mit ihr kollidierte).

Ich glaube, man sollte sich bewusst werden, dass jederzeit etwas passieren kann. Meine Eltern fassen das gerne mit „Bumms - büst buten“ sehr norddeutsch kurz zusammen. Es bedarf nicht viel, um aus dem Spiel zu sein, das sich Leben nennt. Eine Sekunde der Unaufmerksamkeit. Eine falsche Entscheidung. Ein falscher Schritt an einem Abhang. Der Gedanke „Ach was soll ich denn jedes Jahr zur Vorsorge gehen“. Es soll Menschen geben, die nur knapp das Aufbauen ihrer Satellitenantenne überlebt haben. Ich erinnerte mich an eine Geschichte, das in der Nähe meiner alten Heimat ein Elternpaar zusammen Heiligabend (oder unmittelbar zuvor) noch letzte Weihnachtseinkäufe machte und auf dem Rückweg in einen Unfall auf der A28 verwickelt war. Beide starben in diesem Unfall. Sie ließen ihre Kinder zurück. Zack - bist du raus. Und alles ändert sich.

Wenn das Leben so empfindlich ist, ergibt sich - insbesondere, wenn man für andere Menschen die Verantwortung trägt - die dringende Notwendigkeit, die Dinge so zu regeln, das der eigene Tod in Trauer, aber nicht notwendigerweise in der Katastrophe endet. Wer kümmert sich um die Kinder? Wer kümmert sich um den Hund? Wer kümmert sich um das Haus?

Ich hatte das diesmal besser geregelt. Ich musste mich zwar nicht um Kinder kümmern, hatte jedoch jede Menge andere Dinge zu klären.

Vieles davon hat sehr lange gedauert und hat viel Zeit gebraucht. Testament. Na klar. Irgendwie muss man sein Erbe sowieso regeln. Regeln, was mit den Dingen passiert, welche man so im Leben anhäuft. Wer soll sich mit den ganzen Starbucks-Tassen rumärgern, die ich so angehäuft habe? Wer soll meine ganzen Bücher bekommen. Mein Testament vor der OP war also ein wenig ausformulierter als 2019.

Ich schrieb eine Liste mit Menschen, die informiert werden sollten, falls etwas schief geht. Eine deutlich kürzere Liste von Menschen, die über einen positiven Ausgang informiert werden sollten. Die Liste war deswegen kürzer, weil ich viele Menschen nicht informiert hatte, dass ich operiert werden würde. Ich wollte nicht wie beim letzten Mal wieder vielen Leuten sagen müssen „Bin doch nicht operiert worden“, weil etwas ähnliches wie 2019 passiert ist.

Jene Menschen, die ich nicht vorab informiert habe, wollte ich - wenn die Gelegenheit passend wäre - irgendwann später darüber informieren. Dass ich operiert worden bin. Das ich das offensichtlich aber ganz gut überstanden habe.

Ich bat meinen Vater zwei Kollegen über den Ausgang der OP zu informieren. Gleichzeitig wollte ich damit den Kommunikationskanal zur Firma öffnen, wenn meine Familie irgendwas von der Firma benötigte, für den Fall, dass etwas schief geht.

Ich schrieb eine Liste mit Passworten auf. Ich wollte verhindern, dass jene die sich um meinen Nachlass kümmern müssen, vor verschlossenen Computern stehen. Ich habe mehr als einmal gelesen, das das zu einem großen Problem wurde. Und um den Standardwitz zu bringen: Ja … ich habe auch die History und Cookies gelöscht ;) Auf all meinen Rechnern. Allerdings um jedwede Authentisierung zu beenden.

All das ging mir recht schnell von den Händen. Was aber interessanterweise am meisten Zeit in Anspruch nahm, war das Ausfüllen der Patientenverfügung und der Vorsorgevollmacht. Die meisten Gedanken musste ich hier aufwänden. Und davon war ich doch ziemlich überrascht.

Ich dachte zunächst auch: Naja, wie lange kann das schon dauern. Du machst halt ein paar Kreuze. Ende der Thematik. Weit gefehlt. Hinter diesen beiden Dokumenten stecken grundsätzliche Fragen. Du magst Dich fragen, warum ich am Anfang von Kampf schrieb. Es geht bei der Patientenverfügung darum, dem Kampf um das eigene Leben Grenzen zu setzen oder auch nicht. Den Kampf zu führen, solange er möglich, sinnvoll und menschenwürdig ist. Aber eben nicht weiter. Oder eben doch weiter, wenn man es unbedingt möchte. Es geht darum, den entscheidungsberechtigten Verwandten eine Handreichung zu geben, wie sie vorgehen sollen, damit diese nicht später sich nicht daran gedanklich kaputt machen, ob sie die richtige Entscheidung getroffen haben. Ich fände ein „Entscheide Du, was Du in der Situation für richtig hältst“ für unzureichend, weil es viel Potential bietet, den entscheidenden Menschen vor ein großes Dilemma zu stellen. Also sagt man genau, was man in diesen Situationen möchte. Und da ist das Problem: Was möchte man eigentlich? Man hat wahrscheinlich so einen diffusen Satz Gedanken, aber nun geht es darum, dass der sich so verfestigt, dass er auf ein Blatt Papier wandern kann.

Nichts anderes will die Patientenverfügung. Ja, zum einen den Verwandten eine Handreichung zu geben, aber auch dafür sorgen, dass man sich überlegt, was man eigentlich möchte.

Natürlich ist man geneigt zu sagen „Hey, macht alles, was geht, um mich am Leben zu erhalten“. Gerätemedizin bis der Körper endgültig sagt „Nu is Schluss“. Aber dabei hat man wahrscheinlich das Leben im Kopf, das man momentan führt und nicht aufgeben möchte. Trotz aller Schwierigkeiten ist das Leben ja ganz nett. Und wie ich schon vorher ausführte, unterschied sich das bei mir gar nicht so sehr von Normalität. Und klar will man dann medizinische Spitzenversorgung „mit allem“.

Aber irgendwann kommt im gedanklichen Prozess hoch, dass das nicht das Leben ist, das man führt, wenn die Verfügung zum Tragen kommt. In jenem Fall ist man so sehr auf der Grenze zwischen Tod und Leben, das man selbst nicht mehr diese Entscheidung fällen kann. Es ist ein völlig anderes Leben, das man in diesem Moment führt. Und genau diesen Zustand muss man bei der Überlegung im Kopf haben. Leider ist die Notwendigkeit, sich in diesen Zustand zu versetzen, gerade das Problem, der die Entscheidung so schwierig ist. Weil es schwer ist, sich in diesen Zustand zu versetzen. Zumindest für mich.

Man muss sich wirklich fragen, was man will, wenn dieser Moment gekommen ist. Akzeptiere ich Schmerzen, wenn ich dafür meinem bewussten Leben noch einige Stunden oder Tage hinzufüge? Akzeptiere ich Bewusstlosigkeit, wenn ich dafür die letzten Stunden oder Tage schmerzfrei bin? Will ich meinem Leben noch einige Tage hinzufügen, in dem Maschinen mich am Leben halten? In der Hoffnung, es würde sich noch etwas entscheidend ändern? Ich wie Phönix aus der Asche des Komas aufsteige? The always shines on TV. Und im Fernsehen wachen die lang komatösen Patienten irgendwann auch wieder auf und führen ihr normales Leben weiter. Die Realität ist eine andere.

Interessanterweise wachen diese Patienten in der Kunst fast immer ohne Notwendigkeit von Physiotherapie, um den Muskelverlust vieler Wochen oder Monate Koma auszugleichen. Ich habe 17 Tage im Krankenhaus einfach gelegen und merkte schon, dass meine Muskulatur zum Teufel ging. Und ich konnte wenigstens im Krankenzimmer auf und ab gehen. Im Fernsehen stehen Patienten, die sich Jahre nicht selbst bewegt haben, einfach wieder auf. Gehen. Halte ich für unrealistischer denn je.

Auch die Zeit danach, wenn man doch wider aller Erwartung doch noch zurückkommt, sollte man in die Überlegung mit einbeziehen. Was ist dann noch von mir übrig? Ist das, was übrig ist, noch ein Leben, so wie ich es mir vorstelle?

Es ist eine sehr persönliche Entscheidung. Ich habe nach sehr langem Nachdenken eine Antwort für mich darauf gefunden. 2 Tage vor der OP war ich so weit, das Dokument zu unterschreiben. Monate, nachdem ich damit begonnen habe.

Ich könnte damit klarkommen, Körperteile zu verlieren, einen Sinn zu verlieren, wäre schon schwerer für mich. Aber nur noch vor sich her dämmernd in einem Körper, der eigentlich schon lange Schluss machen wollte, vor sich hin zu vegetieren, wäre für mich nun schwerlich vorstellbar. Und ganz offen, in solchen Situationen bin ich auch für Sterbehilfe und hätte sie mir wahrscheinlich gewünscht. Aber das war ein Themenbereich, denn ich bei meinen Überlegungen außen vor gelassen habe, weil ich die Option nicht gehabt hätte.

Ich hatte mich irgendwann dafür entschieden, den Kampf nicht bis zum bitteren, unwürdigen Ende führen zu wollen. Nicht alles medizinisch Mögliche noch machen zu wollen, wenn der Sterbeprozess schon begonnen hat. Nur um vielleicht den Sterbezeitpunkt um ein paar Stunden oder Tage herauszuschieben.

Mir war - bevor ich zu diesen Überzeugungen gelangt bin - nie so richtig klar, wie schwierig diese Entscheidungen sind. Es ist einfach, aus der Perspektive des Beobachtenden, selbst des Familienmitglieds zu sehen „Jetzt füll das doch aus“. Zu sagen „Du brauchst unbedingt eine Patientenvollmacht. Ist doch nur ausfüllen“ ist einfach. Es ist deutlich schwerer, wenn es um die eigene Patientenverfügung geht.

Ich kann hier nur empfehlen, sich deutlich früher um dieses Dokument zu kümmern, als ich es tat. Ja, man versaut sich eine gewisse Zeit mit diesen Gedanken. Man mag da nicht dran denken, was am schlimmsten Tag des Lebens passiert, wenn eigentlich das Leben gerade total super ist. Vielleicht sollte man gerade dann sich diese Gedanken machen, damit diese einen nicht zu sehr runterziehen.

Es ist die eigene Stimme, die auch noch dann spricht, wenn man auf der Grenze zwischen Leben und Tod steht. Und diese Stimme sollte man sich nicht dadurch nehmen, das man dieses Thema von sich fort hält, weil man zu viel zu tun hat, weil das Thema zu morbide ist, zu depressiv.

Ansonsten gilt einfach „Jetzt!“ als der richtige Zeitpunkt für eine Patientenverfügung. Man weiss nicht, was morgen passiert. Ob man von der Autobahn abkommt. Ob man das Gleichgewicht auf einer Leiter verliert. Oder der Bus den eigenen Weg kreuzt.

Die Entscheidung, wer für mich im Fall der Fälle Entscheidung treffen durfte, war dann relativ einfach. Da ich momentan Single bin, habe ich diese Verantwortung auf meine Eltern und Geschwister übertragen. Nach Alter. Und ich habe alle wissen lassen, was ich möchte. Damit war am Ende alles geregelt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass dieses einfache Formular aus dem Generator mich so lange gedanklich beschäftigen würde.

Das Seltsame: Damit kam die Ruhe. Ich hatte alles so geregelt, dass es ohne mich weitergehen konnte, um mich darauf zu konzentrieren, dass es eben nicht ohne mich weitergehen musste.

Um zu dem Forumsbeitrag zurückzukommen, von dem ich am Anfang dieses Artikels schrieb: Vor der OP ist es eine wichtige Frage, aber eine zu spät gestellte Frage. Ich glaube man muss sich diese Frage im Grunde genommen ständig stellen.

Klar ist eine Operation ein Ereignis, das diese Frage in den Vordergrund rückt. Aber die Gefahr, nicht mehr zuhause anzukommen, ist ständig da. Die Möglichkeit, dass zuhause etwas passiert, ist ständig da. Das Cinemaxx hatte mal auf den WC-Wänden eine Werbung „Die meisten Unfälle passieren zuhause. Seien sie nicht zuhause!“. Und das trifft es irgendwie.

Und wie ich aus eigener Erfahrung weiss: Die Möglichkeit das in einem etwas schlummert, von dem man nichts weiss, einen aber umbringen kann … auch diese Möglichkeit ist ständig vorhanden. Oder zum Pflegefall macht: Eine ehemalige Kollegin aus meiner Zeit vor Sun/Oracle hatte im Bad einen Schlaganfall und musste sich über Jahre hinweg zurückkämpfen und ist wahrscheinlich bis heute nicht da, wo sie mal war. Auch hier muss man sich überlegen, wer in der Zwischenzeit die Dinge des Lebens regelt, während man sein Leben zurückerlangt. Das hat mich auch gedanklich sehr lange beschäftigt.

Und von daher ist der Gedanke „Was passiert wenn die OP schiefgeht“, wie ihn die Foristin gestellt hat, vermutlich zu kurz greifend, weil insbesondere bei Kindern die Frage eigentlich sein muss „Was passiert eigentlich, wenn in meinem Leben irgendwas so schiefgeht, das ich nicht mehr da bin? Wenn ich nicht mehr nach Hause komme?“. Wenn man die allgemeine Frage beantwortet hat, ist die OP nur noch eine Untermenge der Problemklasse „Welt ohne mich“.

Ich klebte den Umschlag mit all diesen Überlegungen am 28.9. endgültig zu. Anders als 2019, als ich nicht ansatzweise so viele Überlegungen angestellt habe, habe ich den Umschlag nicht nach meiner Rückkehr vernichtet. Der Umschlag ist immer noch an sicherer und meiner Familie bekannter Stelle hinterlegt.

Am eigenen Mantra gescheitert

Ich schrieb im letzten Kapitel von jenem Mantra, das ich mir für die Ärzte gewünscht habe. So von wegen Hoffnung, Glück, Angst und Fehlschlag. Selbst scheiterte ich an diesem Anspruch.

Denn ich hoffte ich, dass am Tag der Operation alles gut gehen würde, ich wusste auch, dass am Ende auch der Zufall (man mag es auch Glück, Schicksal oder Karma nennen) entscheiden würde, wie alles ablaufen wird. Trotzdem dieses Mantras hatte ich Angst vor der OP. Und ich weiss, dass auch wenn ein Fehlschlag unwahrscheinlich war, ich mich dafür entschieden hatte, jenen im Leben eines Menschen unbestimmten letzten Tag mit einer kleinen Wahrscheinlichkeit zu bestimmen.

Und mit diesen Gedanken ging ich ins Krankenhaus. Äusserlich ruhig, aber innerlich aufgewühlt. Darum soll es im nächsten Kapitel gehen.

Written by

Joerg Moellenkamp

Grey-haired, sometimes grey-bearded Windows dismissing Unix guy.