Mobilisierung

Man mag ja denken, dass man in den Tagen nach einer solchen Operation erst mal in Ruh gelassen wird und im Bett liegen bleibt. Doch weit gefehlt. Sehr weit gefehlt. Es wird sehr schnell versucht, den Patienten wieder zu mobilisieren.

Erst mal aufrichten, sich auf die Bettkante setzen. Gucken, was der Kreislauf macht. In meinem Entlassungsbericht steht, dass ich schon auf der Intensivstation auf meiner Bettkante war. Ich mochte das kaum glauben. Ich erinnere mich entfernt sehr wackelig in der Intensivstation auf meinen eigenen Beinen gestanden zu haben.

Die weitere Mobilisierung erfolgte dann auf der Normalstation. Kurz auf die eigenen Beine. Gucken, ob man stehen bleibt. Dann vielleicht auch ein paar Schritte gehen. Mit einem Rollator. Den braucht man auch. Wirklich. Man ist zunächst noch recht wackelig auf den Beinen. Erst mal eine haltende Option haben, wenn man noch nicht so richtig weiss, ob die Lagekontrollsysteme schon wieder vollständig in Betrieb sind.

Das letzte, was man jetzt möchte, ist irgendwo stürzen und womöglich nicht nur auf dem Hosenboden, sondern auf dem Brustkorb zu landen. Also den Stolz schlucken und das Ding benutzen. Ich habe aber bei der Gelegenheit schlagartig verstanden, warum mein Vater keine Lust auf einen Rollator hat, auch wenn es vermutlich manchmal für ihn komfortabler wäre.

Es sind zunächst Trippelschritte, die man da auf seinen Stoppersocken im Krankenzimmer vollbringt. Aber es wird schnell mehr. Zur Tür. Zur Toilette. Zu den Wasserflaschen im Flur.

Allerdings wurde uns auch erklärt, dass wir uns nicht allzu sehr von der Herzstation entfernen sollten. Aus einem recht einfachen technischen Grund: Man trägt einen Herzmonitor. Ein mobiles EKG. Der gibt den Herzschlag via Funk an ein zentrales Monitoring weiter, das im Stationszimmer aufläuft. Man muss zwar schon weit laufen, aber irgendwann hat der Monitor halt einfach keinen Empfang mehr. Angeblich bis etwa hinter die Tür der Station. Ich h abe es nie ausprobiert.

Am Anfang will man das auch gar nicht. Mir reichte da der Gang zu den Wasserflaschen. Ich wollte erst mal wieder Vertrauen in meinen Körper haben. Vertrauen in den eigenen Körper ist ohnehin ein übergreifendes Thema. Ich habe in der Folge oft erlebt, dass mein Körper Dinge konnte und auch wollte, in die mein Kopf noch nicht so das Vertrauen hatte. Unsicher ob es eine gute Idee wäre. Das wurde allerdings erst in der Rehabilitation zu einer deutlicheren Herausforderung. Aber auch dabei half mir die Reha: Vertrauen aufbauen. Im Akutkrankenhaus hat man nach den ersten schweren Tagen noch nicht so viele Gelegenheiten sich an eine wirkliche körperliche Grenze zu bringen. Zumindestens ging es mir so. Es war immer der Kopf der mich limitiert hat.

Dann kommt der Moment, an dem man sich sicher genug fühlt, ohne Rollator zu gehen. Ich habe mich darüber gefreut, als ich es sicher geschafft habe, bis an das Ende der Herzabteilung zu trippeln, ohne dass ich diesen beräderten Stahlrohrverhau vor mich her schob. Dann ging ich schneller. Fast so schnell, wie ich zum Verdruss mancher Menschen, die mich auf Spaziergängen oder Wanderungen begleiteten, vor der OP gehen konnte.

Ich war dann irgendwann sogar im Foyer des Krankenhauses. Nicht im Erdgeschoss sondern im 1. Stock. Ich konnte in dieses Foyer hineinblicken. Das Krankenhaus hat ein großes offenes Foyer. Es wirkt da gar nicht wie ein Krankenhaus, wären da nicht in manchen Stockwerken Betten in den Fluren sichtbar.

Foyer des Albertinenkrankenhauses

Ich ging aber nicht ans Geländer. Mein Gleichgewicht war noch nicht so hunderprozentig in Ordnung und gab mir zeitweise noch recht komische Signale. Insbesondere an jener Stelle im Foyer, von der auf den Boden des Erdgeschosses blicken konnte. So hielt ich mich vom Geländer fern. Erschien mir einfach vernünftig. Ich wollte nicht auch noch in die Unfallchirurgie. An das Geländer traute ich mich erst an meinem letzten Tag im Krankenhaus. Als ich auf dem Weg nach draussen war. Stattdessen legte ich es darauf an, immer schneller den Gang hoch- und wieder runter zu gehen.

Und dann reduzierte sich schlagartig mein Aktionsradius durch die Corona-Infektion auf einen, einzelnen Raum. Ein grosses Zimmer für mich. Aber eben nur ein Zimmer. Okay, es waren da noch ein Raum für die Dusche und ein WC. Aber das ist nicht nennenswert mehr Aktionsradius. Und vernünftig Duschen konnte ich lange nicht. Treffer, versenkt. Mich sollte diese Einschränkung übel mitnehmen. Aber dazu mehr im nächsten Kapitel.

Schmerzen

Es wurde mir der Brustkorb geöffnet. Ich hatte gar nicht so sehr ein Problem damit, das es passieren würde. Ich wusste ja, dass dieser Schritt für die geplante Operation unumgänglich war. Ich war aber mit dem Mountain-Bike häufig genug gestürzt, das ich wusste, das beispielsweise geprellte Rippen doch lange sehr schmerzhaft sein können. Wie schmerzhaft würde es erst sein, wenn diese für die Operation aus dem Weg genommen werden. Ich hatte mich im Geiste da schon auf sehr unangenehme Zeiten eingestellt.

Aber: Ich hatte nach meiner OP erstaunlich wenig Schmerzen. Man hatte das Thema Schmerzen im Krankenhaus gut im Griff. Ich wurde medikamentös so gut eingestellt, dass es eigentlich mehr als aushaltbar war. Es war wirklich erstaunlich okay.

Ich habe nicht gefragt, was ich da so an Tabletten bekommen habe in den ersten Tagen. Es waren einfach eine große Anzahl Tabletten. Einige erkannte ich, andere nicht. Ich nehme einfach an, dass eine Reihe dieser Tabletten Schmerztabletten waren. Und zwar jene des Kalibers „das gute Zeug“, das Ärzte in der Hinterhand haben, wenn über Paracetamol und Ibuprofen hinaus Schmerzbefreiung notwendig ist.

Nebenbeigesagt: Ich habe eigentlich keine Probleme große Tabletten zu schlucken. Es gibt diese monströsen Antibiotika-Tabletten, bei denen man sich manchmal fragt, wie man die einnehmen sollen. Ob es da vielleicht eine Konzentratversion dieser Tablette gibt, die diese Tablette etwas einfacher die Speiseröhre runterrutschen lässt. Aber selbst das bekomme ich ganz gut hin. Ich muss mich da ohnehin drauf einstellen. Ich habe eine Prothese im Körper. Das heißt Endokarditisprophylaxe. Vor jeder Zahnreinigung eine größere Dosis Antibiotika nehmen. Zwei von diesen grossen Tabletten. Die Freude darüber hält sich in engen Grenzen.

Anfangs war aber das Problem eher die Menge. Das , was ich anfangs im Krankenhaus nehmen musste, ging selbst mir zu weit, um einfach die ganze pharmazeutische Barrage mit einem Schluck Wasser in einem Schritt einzunehmen. Ich kam mir irgendwann schon wie meine Oma vor, für die es Teil ihres täglichen Morgenrituals war, die Tabletten morgens einzeln mit Tee einzunehmen. So saß ich im Krankenhaus mit meiner Wasserflasche und nahm meine Tabletten ein. Bei der Gelegenheit: Hallo Oma, wo auch immer Du gerade bist, ich bin auch schon fast beim Pillenknippke!

Natürlich waren manche Dinge unangenehm. Aber es gab nichts, das mich irgendwie in Tränen gestürzt hätte. Ich vermute, dass das die Schmerzmedikamente verhindert haben. Man merkt seine Limits recht schnell, lässt bestimmte Bewegungen, von denen man weiss, dass sie weh tun werden. Meistens sind das sowieso die gleichen Bewegungen, die man ohnehin erst mal unterlassen sollte, um sicherzustellen das der Brustkorb wieder sauber zusammenwächst.

Und so doof es klingt: Ich fand das Pflasterabziehen sehr unangenehm. Bei weitem. Ich würde mich sogar zu der Aussage versteigen, dass es mit das unangenehmste war. Es ist diese spezielle Art Schmerz beim Abziehen eines Pflasters oder eine EKG-Elektrode, auf die ich anscheinend sehr empfindlich reagiere.

Ich glaube der Schlüssel zu einem vernünftigen Schmerzmanagement ist, dass man ehrlich ist, wenn man gefragt hat, wie die Schmerzen haben. Nicht aus missverstanden Machismo seine Schmerzen geringer aussehen lassen, als sie es wirklich sind. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Sie konnten sich das damals auch nicht leisten, diesen zu kennen, weil es als Schmerzmittel nur die im höchsten Maße Verdacht erregenden Gebräue des protomedizinisch kundigen Älteren gab. Heute sieht das völlig anders aus.

Mit dem Gedanken, so wenig Schmerzmittel wie möglich zu nehmen, quält man sich nur selbst. Man ist mit dem Gesundwerden sowieso genügend beschäftigt, als dass man sich auch noch mit Schmerz ablenken sollte.

Bei der Gelegenheit: Man sollte vielleicht auch nicht mit 10 von 10 auf der Schmerzskala antworten. 10 von 10 ist sehr miesen Situationen vorbehalten, wenn ich das richtig verstehe. 10 von 10 heißt stärkster vorstellbarer Schmerz. Wer noch zu einem klaren Gedanken in der Lage ist, diesen sogar auszudrücken vermag und mit 10/10 antwortet, hat entweder keine Vorstellungskraft oder übertreibt. Und ich bin mir sicher, dass es in jedem medizinisch gebildeten Geiste ein Fach für 10/10 Leute gibt, die klar irgendwo anders liegen. Okay, jeder hat ein anderes Schmerzempfinden. Aber wir können uns glaube ich darauf einigen, dass „wie von der Dampfwalze überfahren“ besonderen Anlässen im Leben vorbehalten sein sollte.

Das ich keine Schmerzen hatte, ist allerdings auch nicht richtig. Ich rede jetzt mal nicht von meinem übertriebenen Mimimimi beim Pflasterabziehen. Zum einen war da das Ziehen der Dränage aus meinem Brustkorb. Das ist garantiert nicht vergnügungssteuerpflichtig. Man hat die Drainage für ein paar Tage im Körper, um sicherzustellen das nach der OP entstehende Flüssigkeit im operierten Bereich abgeführt werden kann. Das passiert anscheinend nicht einfach nur mit einem Schlauch, der raushängt. Der Schlauch wird wohl mit leichtem Unterdruck beaufschlagt. Sobald die Ärzte die Situation so einschätzen, dass die Drainage nicht mehr benötig wird, wird der Schlauch gezogen.

Der Vorgang diesen Drainageschlauch zu entfernen ist interessant. Die Nähte, um die Wunde zu verschließen, die das Ziehen der Drainage hinterlässt, sind schon mit dem Legen der Drainage vorhanden. Das passiert direkt bei der Einbringung der Drainage. Sobald die Drainage raus ist, wird die vorhandene Naht schnell zu gezogen, die Wunde damit verschlossen.

Mir kam der Vorgang ungefähr so vor, als würde man einen Benzinrasenmäher starten. Man könnte auf die Idee kommen, die Geräusche eines startenden Motors von sich zu geben. Aber das kann man vergessen. Man ist in dem engen Zeitintervall, in dem das vielleicht amüsant wäre, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu sehr damit beschäftigt, dass das echt unangenehm ist. Ein ordentlicher Schlag in die Magengegend ist vielleicht ein guter Vergleich. Es tut weh, aber nur für ein paar Sekunden. Heftig, aber aushaltbar. Ich hatte bei einer Zahnbehandlung schon stärkere Schmerzen gehabt. Aber offen gestanden hoffe ich, dass mir nie wieder im Leben ein Drainageschlauch gezogen wird.

Was länger Schmerzen bereitete, war mein Brustkorb. Ich merkte deutlich, dass dieser geöffnet worden war. Die Herausforderung war weder einfach zu liegen noch sich zu bewegen, wenn man erst mal aufgestanden war. Das war mehr oder minder schmerzfrei. Es war im Grunde genommen fast normal. Es waren nur zwei Dinge so richtig schmerzhaft: Niesen und Husten hat wehgetan. Sehr.

Ein weiteres Problem war das Hinlegen und Aufstehen aus dem Bett heraus. Wie man die nächste Zeit aufstehen sollte, wird einem sehr früh im Rahmen der Mobilisierung nach der OP beigebracht. Man darf sich nicht so wirklich aufstützen. Das würde den Brustkorb belasten und der ist gerade mit Heilen beschäftigt. Also muss man ein wenig tricksen. So ganz hält sich das Verfahren nicht an das Dogma „Nicht aufstützen“, aber es ist so wenig Belastung an der Stelle am Spiel, das es wohl egal ist. Vermutlich.

Es ist auch nicht so, dass das dann superempfindlich ist. Die Drahtcerclage ist so stabil, das nicht gleich alles auseinanderfällt, weil man sich irgendwo falsch bewegt. Das ist zumindest meine Zusammenfassung dessen, was man mir dazu erklärte. Aber man will schon da eine gewisse Ruhe reinbringen, damit die Heilung fortschreiten kann.

Der Trick ist, sich so nah wie möglich an die Bettkante zu rollen. Und schon hier muss man anders vorgehen, als man es vor der OP gehandhabt hat. Es ist wichtig sich selbst zu umarmen, um den Brustkorb zu schonen. Man macht das schnell freiwillig, denn rollen tut weh, wenn man das Umarmen vergisst. Dann die Beine als Gegengewicht zu nutzen, um den Körper fast ohne Aufstützen aufzurichten. Für dieses Restaufstützen den linken Arm nehmen, da ich auf der rechten Seite operiert worden bin. So habe ich mir das zumindest zusammengebaut. Ich habe mich fast zwei Monate fast religiös an dieses Vorgehen gehalten. Erst seit Anfang Dezember stehe ich wieder normal aus. Und selbst jetzt merke ich, dass die Bewegungsabläufe aus der Zeit nach der Operation immer noch Teil meines Aufstehprozesses sind. Es wird glaube ich lange dauern, bis ich wieder genauso aufstehe oder mich hinlege, wie ich es vor der OP tat.

Das war auch keine Kann-Angelegenheit. So nach der Art: Besser wäre das schon. Wenn ich aufstehen wollte, ohne das es sehr schmerzhaft werden würdem, dann musste ich diese Technik einhalten. Ich wollte ohnehin auf jeden Fall verhindern, das man mir bei Problemen mit der Verheilung des Brustkorbs sagt: „Hätten sie sich man an die Technik gehalten“. Beim Hinlegen gilt das gleiche. Nur andersrum. Ich konnte das am Ende meiner Krankenhauszeit richtig schnell. Alten Hunden kann man also doch noch neue Tricks beibringen. Eine kleine Herausforderung gab es: Ich konnte das nur zu einer Seite, nach links hin. Nach rechts über die Kante habe ich das nie wirklich flüssig hinbekommen.

Zweite Herausforderung waren Husten und Niesen. Auch hier muss man sich selbst umarmen. Das hält sowohl beim Husten als auch beim Niesen den Brustkorb zusammen und reduziert die Schmerzen. Das funktioniert wirklich gut.

Denn einfach nur so zu Niesen ist eine recht schmerzhafte Erfahrung. Wenn man merkt, dass man gleich niesen muss, am besten schon sich umarmen. Nicht nach einem Taschentuch suchen. Dafür hat man sowieso keine Hand frei. Postpandemische Nies- und Hustenetikette ist wirklich schwer unter diesen Umständen.

Die Hand vorm Mund zu halten oder in den Ellenbogen zu niesen ist schwer, wenn sich die Hände hinter dem Rücken oder auf den Schultern befinden. Man kann in dem Moment nicht alles haben und ich hoffe, dass man mir diese Unhöflichkeiten mittlerweile verziehen hat.

Ich möchte hier nur einen Tipp geben: Das selbst Umarmen funktioniert entschieden besser, wenn man ein Kissen zur Hand hat. In meiner Vielfliegerzeit habe ich mir ein Reisekissen gekauft. So eins, dass man teilweise in sich selbst stopfen kann, damit es weniger Platz wegnimmt, da man es dabei auch gleichzeitig komprimiert. Fürs Fliegen in Economy wars etwas unpraktisch. Es war nämlich unhandlich groß dafür. Es sei denn, man saß am Fenster. Dann war es genial, um den Spalt zwischen Aussenhaut und Sitz zu überbrücken.

Die Idee es mitzunehmen, basierte auf einem YouTube-Video. Ich hatte Videos aus den Vereinigten Staaten („Was haben sie vor, während und nach der HerzOP zu erwarten“ … nein … nicht mit Troy McLure) gesehen, dass in manchen amerikanischen Krankenhäusern ein herzförmiges Kissen verteilt wird. Ein solches habe ich nicht erhalten. Dafür aber einen Atemtrainer, der genauso wichtig war.

Wie auch immer: Dieses Kissen drückt man an seinen Brustkorb. Ich fand das angenehmer, da sich ein wenig mehr Druck auf dem Brustkorb erzeugen liess, so das es sich beim Husten oder Niesen nicht so anfühlte, als würde alles gerade nach aussen fliegen und mein Brustkorb aufspringen.

Ich war froh um das Reisekissen. Ich hätte nicht auch noch ein rotes Plüschherz mit ins Krankenhaus nehmen wollen. Das hätte ich mir zum einen noch kaufen müssen. Ich hab sowas nicht vorrätig. Zum anderen vermutete ich, dass ich wahrscheinlich schon für den Plüschhamburger genügend schräg vom Krankenhauspersonal angeguckt werden würde. Ein rotes Plüschherz wäre dann wahrscheinlich zu viel gewesen.

Also Kissen mitnehmen. Etwa mittlere Sofakissengrösse. Kann ich empfehlen.

Mich rettete dieses Kissen ein Stück weit. Ich musste lange husten. Ich brauchte lange Hustenlöser nach der Operation. Ich hatte schliesslich SARS-CoV-2. Eine nähere Umschreibung erspar ich euch an dieser Stelle. Das Kissen half, das nicht jeder Huster gleich richtig schmerzhaft wurde.

Des Nachts

Man hat also eine recht schwere Operation hinter sich. Es klingt vielleicht schlimmer als es ist, aber man muss erstmal mit dem Erlebnis der Operation fertig werden. Ich habe seit der OP deutlich intensivere Träume. Als würde mein Kopf die letzten 4-6 Jahre im Schnelldurchlauf noch mal verarbeiten. Als hätte etwas meine Schlussfolgerungen aus den Träumen gelöscht. Alles muss noch mal raus, alles muss noch mal verarbeitet werden.

Ich träume anscheinend alles nochmal mit dem postoperativen Blickpunkt. Es kommen momentan regelmäßig Personen und Situationen in meinen Träumen hoch, die ich schon längst verarbeitet wähnte. So das Pleitenpechundpannen-Reel der letzten Jahre. Das ist auch fast drei Monate nach der Operation noch nicht anders. Ich wache oft nachts auf und muss über meine Träume selbst den Kopf schütteln. Ich würde niemanden vom Inhalt der Träume erzählen wollen. Und werde es auch hier nicht tun.

Manche Träume sind aber neu. Und ich habe keine Ahnung, wo diese herkommen. Mein „Highlight“ war besonders merkwürdig: Ich war in Wien. Viele Menschen aus meiner Vergangenheit waren ebenfalls da und spielten eine Rolle im Traum. Okay. Das ist noch nichts wildes. AAAABER: Das Irre war … Christoph Waltz fungierte als Erzähler aus dem Off . Es ging um irgendein Café, das im Familienbesitz bleiben sollte. Ich habe weder Verwandschaft in Wien, noch gibt es ein Café im Familienbesitz.

Ich frage mich seitdem ernsthaft, wie und warum ich so einen Müll hab zusammengeträumt habe. Ich hatte an dem Tag echt Zweifel an meinem Geisteszustand.

Ich hätte den Tag über wahrscheinlich nicht „Alita Battle Angel“ gucken sollen. Ich frage mich bis heute, wie sie Herrn Waltz und Herrn Norton davon überzeugen konnten, da mitzuspielen. Wobei, der Film ist wirklich kurzweilig und kurzweilig ist alles, was man im Krankenhaus will. Für kulturelle Highlights, für polnische Experimentalfilme mit finnischen Untertiteln ist noch genügend Zeit, wenn man das Krankenhaus verlassen hat.

Ich habe auch 3 Monate nach der OP nicht wirklich das Gefühl, das ich all die Erlebnisse nach der OP so wirklich verarbeitet oder in mein mentales Bild der Zeit eingebaut habe. Ich denke, dafür werde ich noch einige Zeit brauchen.

Ein Arzt meinte auch später, dass das Problem insbesondere bei Menschen, die im Büro arbeiten, irgendwann nicht so sehr die körperliche Belastbarkeit ist. Sondern das sich der Kopf damit lange beschäftigt. Das sich der Kopf von dieser Situation erholen muss. Um sich wieder auf auf das normale Leben zu konzentrieren.

Zeichen an der Wand

Vermutlich war jener Traum das Intro für die Zeit danach. Denn es blieb nicht bei den Träumen. Irgendwann hat ich Traumbilder im Wachzustand. Ich habe gelernt, dass die Herzlungenmaschine und die lange Narkose sehr interessante Folgen im Gehirn haben können. Folgen die mir Angst gemacht haben, aber nach wenigen Tagen wieder verschwanden. Obwohl ich um diese Folgen wusste, machten diese mir Angst.

Eine Zeit lang sah meine Welt für mich so aus wie der Hintergrund beim Video der Kiss Version von Tom Jones und The Art of Noise. Nee. Eigentlich noch weit wilder. Weit unruhiger. Die Welt war sehr bunt. Ich hatte den Eindruck, mein Hirn füllte leere Räume mit irgendwelchem Unsinn auf.

Mein Auge sah eine leere Wand. Tanzende Figuren erschienen. Mein Auge sah den grauen einfarbigen Himmel. Muster drauf. Mein Auge sah eine Lampe. RGB-Bayes-Muster nebendran. Ich gucke an die Decke. Zahlen. Mein Gehirn machte aus dem leeren, leisen Raum einen Time Square oder auch Shibuya Crossing. Dazu passt auch, das einige der Zeichen, die ich an der Decke gesehen habe, irgendwie japanisch aussahen.

Ich sah Zeichnungen an der Decke, die in kurzen, stets wiederholenden Bewegungen an meinem Auge vorbeizogen. Da es in der Nacht, wenn die Augen geschlossen waren, überhaupt keinen visuelle Reize gab, war dann mein gesamtes Blickfeld davon ausgefüllt. Leeren Raum vor Augen gab es nicht.

Ich habe mich lange gefragt, woher Künstler ihre Inspiration hernehmen. Nach der Erfahrung nach der Operation habe ich eine Vorstellung davon. Van Gogh soll unter Migräne gelitten und das auch in seiner Kunst verarbeitet haben. Auch bei anderen Künstlern vermute ich mittlerweile ähnliche Zusammenhänge.

Da sich meine künstlerischen Fähigkeiten nach dem dritten Lebensjahr sich nicht nennenswert weiterentwickelt haben, kann ich das, was ich gesehen habe in jener Zeit leider nicht in Zeichnungen fassen, sondern muss mich der beiden Vergleiche oben bedienen. Konnte schließlich kein Photo davon machen, auch wenn manche diese Sinneseindrücke schon faszinierend waren.

Ich hege seit dieser Zeit die Vermutung, das die Inspiration vieler Künstler aus solchen Situationen erwachsen sind. Sei es durch ein Leiden, mit dem man bis heute weitestgehend einfach leben muss, sei es durch die Folgen einer schwerwiegenden medizinischen Prozedur oder durch das, was man im englischen „recreational drug use“ nennt. Als würde es „occupational drug use“ geben.

Ich schreibe deswegen so offen darüber, dass ich Halluzinationen hatte, weil das nicht selten ist. Und nach dem, was man mir erzählte, ist das oft auch deutlich ausgeprägter sei. Es ist schon ein hoher Prozentsatz an Patienten, der eine solche Situation erlebt. Man wird hier mit Herzlungenmaschine und Narkose an eine Grenze geführt. Und das Hirn braucht einen Moment sich davon zu erholen. Und man sollte dem Hirn diese Zeit geben.

Erzählt aber euren Ärzten davon. Das ist ein bekanntes Phänomen. Nichts wofür man sich schämen müsste. Sie können etwas dagegen tun. Bei mir blieb es eine Phase von vielleicht 4 bis 5 Tagen. Ich war schon mehr mit den mentalen Folgen der Isolation beschäftigt, als die Medikamente dagegen wieder abgesetzt worden konnten.

Written by

Joerg Moellenkamp

Grey-haired, sometimes grey-bearded Windows dismissing Unix guy.