Wir überreizen uns zu Tode

228 Stundenkilometer. Kommt einem garnicht so schnell vor. Als Kind hätte man wahrscheinlich noch leuchtende Augen bekommen bei dieser Zahl und waere bei dieser Geschwindkeit wahrscheinlich keinen Millimeter von der Geschwindkeitsanzeige des ICE gewichen, hätte die Erzeugerfraktion mit einer Litanei vorgelesener Geschwindkeitsangaben in den nervlichen Ruin getrieben. Nun ist man nicht mehr Kind und man schaut nur noch gelangweilt aus dem Fenster und nimmt die Geschwindkeitsanzeige nur wahr, wenn man gerade vor der Toilette wartet, das sie geräumt wird (sowohl von der Person als auch von den olfaktorischen Hinterlassenschaften). Uninteressant. Langweilig. Kindisch. Auch wenn ganz tief zumindestens bei Männern, noch ein ganz kleines, eher winziges Flämmchen diebischer Freude aufkommt, wenn das Display die magische Zahl 230 anzeigt. Zeigen darf man das aber nicht. Coolness ist wichtig.
Je älter man wird, desto mehr erfolgt neben der üblichen Körperabnutzung die Abstumpfung der Fähigkeit sich zu freuen, zu staunen, sich zu begeistern. Mit 5 waren die 35 km zur Oma eine Weltreise, eher selten unternahm man eine solche Fahrt. Mit 15 freute man sich als Landkind über jede Fahrt ins 50 km entfernte Oberzentrum inclusive Universitaet. Mit 21 wohnte man man dann in diesem Oberzentrum, ging auf die Uni und der Reiz war weg. Diesen Reiz uebte dann die nächste Grossstadt aus. Hamburg. Das wäre toll. Mit 32 wohnt man in dieser Stadt und denkt “Und nun ? Mehr geht nicht. Nur noch anders”.
Was war es besonders, im Schulpraktikum die 17 Minuten per Bahn zu fahren. Man fühlte sich reifer. Heute sind wir froh, wenn wir es in 17 Minuten morgens durch den Checkin zum Flieger geschafft haben.
Aus dem Schullandheim auf Wangerooge ist der Wunsch nach Mountainbiking in Neuseeland geworden. Die vorsichtige Berührung beim Fangenspielen mit den Mädchen als Nonplusultra des gegenseitigen Kontakts wich irgendwann der Notwendigkeit eine erhebliche sportliche Fitness an den Tag zu legen, da die sexuelle Interaktion mittlerweile artistische Züge trägt, um noch als besonders und nennenswert zu gelten. Obwohl wir mit drei Programmen mit mittäglicher und nächtlicher Sendepause aufgewachsen sind, fühlen wir uns heute abgeschnitten, wenn nicht mindestens 8 deutsche Programme im Hotel-TV angeboten werden.
Wir amüsieren uns nicht zu Tode. Dazu ist die Angelegenheit viel zu ernst. Mit Freude hat das nichts zu tun. Wir überreizen uns zu Tode. Oder wir dämmern dem Tode entgegen, weil uns nichts mehr zu begeistern vermag.